Vanessa von Polheim – FLUCHTPUNKT.

Fotos:


» Beschäftige dich mit etwas, dass dich glücklich macht. «
(O-Ton einer ehemaligen Absolventin)

Glück? Was ist das genau? Was macht Menschen glücklich? Kann ich das fassen? In Worten? In Bildern?
Ähnlich einem Kind, welches beim Spielen die Welt um sich herum vergisst, sind es vor allem jene Momente, die uns glücklich machen, in denen wir uns einer Sache vollkommen hingeben. Auf der ständigen Suche nach solch euphorischen Glücksmomenten, flüchten sich viele Menschen in eine Welt fernab von der Realität. Begründet durch die Angst zu versagen oder den Ansprüchen unserer Umwelt nicht zu genügen, prägten sich insbesondere in unserer westlichen Kultur eskapistische Verhaltensmuster. Wir finden uns in Ausflüchten – Partyexzesse, Sex und Drogen, um nur einen kleinen Teil zu nennen. »Kaum jemand wirft heute noch eine Tablette ein, um Gott zu sehen; man will einfach nur Samstag abend gut drauf sein – eine billige Flucht aus der Realität (…).« 1
Vor dem Hintergrund meiner Erkenntnisse, offenbarte sich mir während meiner Recherche der allgegenwärtige Kontrast von Tag und Nacht.Die dunklen Hallen der Partyszenerie bieten den Gegenentwurf zu unserer, unter starker Beleuchtung stehenden, Alltagswelt. Dabei begibt sich der Exzess im Sinne von ausschweifendem, maßlosem Treiben auf einen Weg außerhalb der Norm unserer Gesellschaft und wird meist nur mit einem Kopfschütteln begutachtet oder als asoziales Verhalten bezeichnet. Fasziniert durch den immer wiederkehrenden Gegensatz von normativen Werten und expressiven Zuständen, stellte ich mir die Frage, nach einer verbindenden Konstante mit der Mode. Was wäre, wenn sich unsere Kleidung anpassen könnte?
In diesem einen Moment – still und heimlich – unbemerkt vor beobachtenden Blicken? In dem Moment der Erlösung, des Ausbruchs, entfaltet sie sich. Bietet Raum. Wirft Fragen auf und verliert mit dem Träger selbst die Kontrolle. Dieser Gedanke im Zusammenhang mit den Erkenntnissen meiner umfassenden Recherche diente mir als Inspiration und bildete den Ausgangspunkt meines Designprozesses einer avantgardistisch anmutenden Damenkollektion. Gleichsam dem Künstler, dessen Kreativität sich während eines Drogenrausches eines Wandlungsprozesses unterzieht, wurde im Zuge meiner methodischen Ausarbeitung meine Kollektionsentwicklung maßgeblich von den Charakteristika des Rausches beeinflusst. Dabei möchte ich mit meiner Kollektion das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Norm und dem rauschhaften Exzess aufgreifen und die eigentliche Unverträglichkeit von Bewusstsein und Unterbewusstsein in eine scheinbare Abhängigkeit verwandeln.
Die Wahrnehmung dieser Widersprüche soll dem Betrachter zunächst verwehrt bleiben. Trotz einer avantgardistischen Anmutung soll eine Kollektion entstehen, die den Zweck von Kleidung im Sinne von industrieller Bekleidung gewährleistet und fähig ist die Anonymität des Trägers zu wahren. Auf die gleiche Art und Weise wie der Mensch sich gefangen sieht und nach einem Schlupfloch sucht, bestand mein persönliches Ziel darin, den Rausch in die Konstruktion des Kleidungsstückes einzubringen und nicht umgekehrt. Durch das „Aufbrechen“ der einzelnen Kollektionsteile mittels eigener Verwandlungsmechanismen gesteht das Design dem Träger die eigene Gestaltung zu. Es entsteht ein Wechselspiel zwischen dem Medium Kleidung und dem Organismus Mensch – Das Design ist der Träger und der Träger ist das Design. Bieder anmutende Kleidungsstücke dienen als Vorlage für eine zum Teil ironische Auseinandersetzung mit dem konventionellen Gesellschaftsbild. Häkelspitze und Feinstrick greifen in Kombination von klassischen Kleidungsstücken dieses Menschenbild auf und verhelfen der Kollektion zu einem spießigen Erscheinungsbild. Meist ungeschriebene Gesetze der Bekleidung, am althergebrachten festhaltend, finden sich in ihrer nahezu ursprünglichen Form. Hochgeschlossen. Zugeknöpft. Brav. Unauffällig. Dem gegenüber das transformierte Erscheinungsbild: Sichtbarer Futterstoffe, entblößte Körperstellen oder raumgreifende, abstrakte Formen, stellen die perfekte Ästhetik der Konvention in
Frage und verwundern den Betrachter.
»Fluchtpunkt«, die Kollektion, präsentiert sich selbst als ein Dazwischen, welches dem Träger den durch die Gesellschaft verwehrenden Freiraum in der Kleidung gewährt. Sie richtet sich an die Konsumentin mit dem Bedürfnis nach individuellem Ausdruck, aber gleichzeitigem Wunsch nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Sie ist im Stande selbst die Kontrolle zu verlieren, sie selbst kann auf die schiefe Bahn geraten, sie zeigt nach allem – Design im Rauschzustand.